Wie kann man evolutionäre Medizin und Genommedizin mit Künstliche Intelligenz verbinden?

In der evolutionären Medizin wird im Stoffwechsel von Tieren nach neuen Therapieansätzen zur Behandlung menschlicher Krankheiten untersucht. Der Neurogenetiker Joe Dramiga erklärt es am Beispiel einer Erbkrankheit einer Leber: die Progressive familiäre intrahepatische Cholestase Typ 3 (PFIC3) führt zu einer niedrigen Phospolipidkonzentration im Gallensaft, die mit erhöhtem Risiko für Gallensteine und Zerstörung der Gallenkanälchen verbunden ist. Die Krankheit tritt in jungen Jahren auf und erfordert mit ihrem schweren Verlauf oft eine Lebertransplantation. Verantwortlich für PFIC3 sind Mutationen in den zwei, von Mutter und Vater geerbten, Abcb41-Genen, die dazu führen, dass diese Gene inaktiv sind und die Zellen kein Abcb4-Protein herstellen. Nur wenn das mütterliche und das väterliche Abcb4-Gen inaktiv sind kommt es zum Ausbruch von PFIC3.

Bei Meerschweinchen und Pferden kommt es nicht zu den für PFIC3 typischen Leberschäden leiden, obwohl das Gen inaktiv ist. Wie bleibt die Leber gesund? Um diese Fragen zu beantworten ist die Humanmedizin auf die Hilfe der Tiermedizin und der Bioinformatik angewiesen. Die Bioinformatik verfügt jetzt mit der künstlichen Intelligenz EVE (Evolutionary Model of Variant Effect) über ein neues Werkzeug sie dabei zu unterstützen.

EVE ist ein künstliches neuronales Netzwerk, das Unüberwachtes Maschinelles Lernen (UML) nutzt. UML beruht nicht auf vordefinierten Parametern und Regeln, sondern beinhaltet adaptives Lernen.
Ein künstliches neuronales Netzwerk besteht aus Knoten, auch Neuronen genannt, die Informationen von anderen Neuronen oder von außen aufnehmen, modifizieren und als Ergebnis ausgeben. Dies erfolgt über drei verschiedene Schichten, denen jeweils eine Art Neuronen zugeordnet werden kann: solche für den Input (Eingabeschicht), für den Output (Ausgabeschicht) und die sogenannten Hidden-Neuronen (versteckte Schichten) die sich zwischen der Eingabeschicht und der Ausgabeschicht befinden.

Die Forscher*innen Debora S. Marks (Medizinische Fakultät der Universität Harvard, USA) und Yarin Gal (Abteilung für Informatik der Universität Oxford, England) haben mit ihrem Team EVE entwickelt um Mutationen in den orthologen Genen von 140 000 Tierarten (inklusive ausgestorbener Tierarten) zu erkennen und zu klassifizieren. Die Forscher*innen bewerteten mit EVE 36 Millionen Proteinsequenzen und 3.219 krankheitsassoziierte Gene in verschiedenen Tierarten. EVE schätzte die Wahrscheinlichkeit, dass jede einzelne Aminosäurevariante entweder unbedenklich oder krankmachend für den Menschen ist.

Um festzustellen, ob EVE genaue Vorhersagen macht, verglichen die Forscher seine Ergebnisse mit fünf Mutationen in menschlichen Genen, deren klinische Bedeutung bekannt ist: verschiedene Formen von Krebs, mehrere Krebssyndrome und Herzrhythmusstörungen. Die Vorhersagen von EVE überschnitten sich mit den aktuellen Beschreibungen aus experimentellen Daten.

Ein bemerkenswerter Vorteil von EVE gegenüber den derzeitigen Methoden besteht darin, dass es einen kontinuierlichen Score statt eines binären Scores vergibt. Denn selbst wenn Genvarianten als krank machend eingestuft werden, ist die Art und Weise, wie sich eine Mutation im Körper auswirken kann, vielschichtig. “Es gibt ein ganzes Kontinuum der Pathogenität”, so Marks. “Der kontinuierliche Score ist sehr wichtig für die Vorhersage des Grades der Pathogenität. Bedeutet die Mutation, dass ich Schmerzen in meinem kleinen Zeh bekomme oder werde ich morgen sterben?” Die Forscher*innen müssen z. B. bedenken, dass eine Orthologie von Genen nicht zwangsläufig zu Orthologie von Organen führt, so ist z. B. der Fall nicht auszuschließen, dass orthologe Gene und damit auch orthologe Proteine in zwei völlig verschiedenen, nicht-orthologen Geweben gefunden werden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt von EVE ist die Zuweisung eines Vorhersagesicherheitsscores für jedes einzelne Gen. Für jede genetische Variante teilt EVE den Ärzt*innen mit, wie sehr sie der Vorhersage vertrauen können. “Wir geben den Mediziner*innen nicht nur eine Zahl, sondern auch den Grad der Unsicherheit, der damit verbunden ist”, sagt Gal. “Das ist etwas, dass sie bei der Entscheidungsfindung verwenden können. EVE kann sagen: ‘Ich glaube, diese Variante gehört zu diesem Stapel, aber ich habe noch nie solche Varianten gesehen, also ist das mit Vorsicht zu genießen.

Von OrthoDisease zur Genommedizin

Marks und Gal beteiligen sich auch an der Atlas of Variant Effects Alliance, einer weltweiten Forschungsinitiative, deren Ziel es ist, einen umfassenden Atlas aller möglichen menschlichen Genvarianten und ihrer Auswirkungen auf Proteinfunktionen und Organe zu erstellen. Ziel der Bemühungen ist es, die Diagnose, Prognose und Behandlung menschlicher Krankheiten zu verbessern. Seitdem Next Generation Sequencing4 automatisierte Genomsequenzierungen im großen Maßstab möglich gemacht hat, verstehen Forscher*innen immer schneller, welchen Einfluss spezifische genetische Veränderungen auf die Gesundheit oder Erkrankung eines Menschen haben. Die Genommedizin nutzt Sequenzinformationen für eine genetische Diagnostik und klinische Interpretation der individuellen Erbinformation.

Quelle: Spektrum.de