Professor Dr. Stefan Simm forscht und lehrt am Institut für Bioinformatik der Universität Greifswald unter anderem im Bereich der medizinischen Bioinformatik. In seiner Arbeit wendet er ein breites Spektrum neuartiger Technologien zur Erforschung biomedizinischer und mikrobiologischer Fragestellungen an. Im Rahmen der Interview-Reihe unserer Netzwerkpartner gab uns Professor Dr. Simm spannende Antworten auf unsere Fragen. In diesem Beitrag präsentieren wir Ihnen das vollständige Interview.
Bitte beschreiben Sie kurz, was Ai For Life für Sie ausmacht. Wie schätzen Sie den langfristigen Stellenwert eines solchen Netzwerks ein?
Ai for Life ermöglicht es, die verschiedenen Disziplinen wie Medizin, Biologie, Bioinformatik, Medizininformatik und Data Science zusammenzubringen. Dies ist in diesem Falle wichtig, um interdisziplinäre Expertisen zu schaffen, welche aus dem experimentellen, anwendungsorientierten und methodischen Bereich kommen. Für die Entwicklung neuer KI Methoden und auch dessen Akzeptanz ist es notwendig, ein Verständnis und Vertrauen bei den Anwendern zu generieren und zum anderen bei der Entwicklung von KI auch a priori Wissen und Grundannahmen einfließen zu lassen. Der Vorteil eines Netzwerkes wie AI4Life ist die Möglichkeit, langfristige regionale Kollaborationen aufzubauen und auch Kompetenzzentren zu sichten und zu verteilen. Es können dadurch für die Zukunft starke Verknüpfungen und Tandems zwischen Nasslabor und KI-Entwicklung erstellt werden.
Sprechen wir kurz über Ihre Schwerpunkte. Am Institut für Bioinformatik beschäftigen Sie sich in Ihren Forschungsprojekten unter anderem mit der Untersuchung verschiedener Sequenzen, Strukturen und phänotypischer Besonderheiten, um nichtkodierte RNA nach ihrer Artenzugehörigkeit zu klassifizieren. Welche Rolle spielen Anwendungen der künstlichen Intelligenz heute in der Genetik?
Meine Schwerpunkte hinsichtlich KI ist aktuell auf dem neu entstehenden Feld der erklärbaren KI (explainable AI; XAI). Hierbei geht es darum, die Deep Learning-Ansätze basierend auf komplexen Neuronalen Netzen (NN) und dessen Black Box transparent zu machen. Dieser Ansatz wird heutzutage in der Klinik aber auch in der Genetik oder generell Biologie sehr wichtig, da es hilft die gemachten Vorhersagen der KI erst in Relation zu setzen die wir Menschen verstehen. Am Beispiel von Krankheitsdiagnosen können NNs heutzutage sehr gute Vorhersagen über gesund oder krank vornehmen, allerdings ist es nicht offensichtlich, welche Merkmale und Eigenschaften hierzu von der KI erkannt werden. Um artifizielle Eigenschaften auszusortieren und die Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten, ist es also notwendig, mittels XAI diese Faktoren sichtbar zu machen. Somit können auch neue Biomarker identifiziert werden, um diagnostische Verfahren zu verbessern oder neue Risikofaktoren zu finden und bestehende zu gewichten anhand der Wichtigkeit.
Am Beispiel der nicht-kodierenden RNAs (non-coding RNAs; ncRNAs) kann man sehr gut verdeutlichen inwieweit Maschinelle Lernmethoden (ML) für weitere Anwendungen in dem Bereich der Medizin und Biologie helfen können. Durch die genauere Vorhersage von ncRNAs ist es möglich, neue ncRNAs zu annotieren. Falls nun für Risikofaktoren oder in der Diagnostik für bestimmte Krankheiten Expressionsprofile erstellt werden, können diese mit Hilfe des Klassifizierers zugeteilt werden. Somit werden neue ncRNAs identifiziert und später mittels XAI sogar Muster oder Motive identifiziert, welche die KI für wichtig zur Unterscheidung einstuft.
Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung in der Anwendung des maschinellen Lernens zur Erforschung von molekularbiologischen Fragestellungen ein? Werden Methoden wie maschinelles Lernen zur Verarbeitung großer Datensätze und andere KI-gestützte Anwendungen hierbei in Zukunft eine noch größere Rolle einnehmen?
Hierzu würde ich sagen, dass KI-gestützte Systeme sehr essentiell in vielen verschiedenen Forschungsgebieten sind. Trotzdem hat jede Disziplin seine spezifischen Besonderheiten zum Berücksichtigen. Im Falle der Medizin und auch in Bezug auf den klinischen Alltag ist es besonders wichtig, dass eine Translation in die Klinik von KI nur funktionieren kann, falls die Vorhersagen nachvollziehbar sind für den behandelnden Arzt. Hierzu muss meiner Ansicht nach also eine XAI entwickelt werden, um Standards für Medizinprodukte zu erreichen.
In der Biologie kommt es generell auch außerhalb der Molekularbiologie zu immer größeren Datensätzen, welche günstig produziert werden können und ausgewertet werden müssen. Hierbei sind neben bereits gängigen Standards wie Omics auch vermehrt Bilder im Fokus um phänotypische Analysen durchzuführen. Hierbei geht es häufig um die Verknüpfung von heterogenen Datenquellen um holistische Ansätze und Regulationen zu verstehen. Dies wird noch weiter zunehmen, um die lokalen Veränderungen in den globalen Kontext zu setzen.
Welche Chancen sehen Sie zukünftig in der Einbindung von künstlicher Intelligenz in der Mikrobiologie und der Zellbiologie?
In der Mikrobiologie und Zellbiologie sind vorrangig die Regulationsmechanismen im Vordergrund basierend auf dem Wechselspeil von DNA,RNA, Protein und Metabolit. Hierbei können die einzelnen Moleküle gut mit statistischen Methoden analysiert werden aber der Kontext in der Verknüpfung dieser Moleküle ist herausfordernd und kann durch KI massiv unterstützt werden. Hierbei kann KI aber auch in der Bilderkennung eingesetzt werden, um die Mikroskopie und die Extraktion einzelner Zellen oder Zellstrukturen zu unterstützen. Auf dem Gebiet der Sequenzanalyse und der Motividentifizierung zur besseren Charakterisierung und Annotierung sind ebenfalls KI-Methoden mittlerweile Standard. Zukünftig wird der Fokus allerdings vermehrt darauf liegen, neue Biomarker zu identifizieren in Bezug auf Umweltbedingungen, Stressoren, Krankheiten oder „Spatio temporale“ Veränderungen. Hierbei sind vorrangig neue Methoden im Mittelpunkt wie „Single Cell Sequencing“, welche Raum bieten neue KI-Methoden zu entwickeln.
Gibt es bei der Anwendung von künstlicher Intelligenz im Bereich der Molekularbiologie aktuell besondere Herausforderungen? Gibt es etwas, das sich Ihrer Meinung nach noch verbessern müsste, damit künstliche Intelligenz hierbei effektiver und effizienter eingesetzt werden könnte?
Zu der Verbesserung gibt es heutzutage meiner Ansicht nach zwei Hauptpunkte. Aktuell wird das sogenannte „Neuromorphic Computing“ entwickelt, um die Verarbeitung von Prozessen der KI effizienter zu gestalten. Hierbei soll die Rechnerarchitektur an das Gehirn besser angepasst werden, um komplexere Verschaltungen zu ermöglichen und auch das Lernen effizienter zu machen. Aktuell ist es häufig noch so, dass viele verschiedene Architekturen für ein Problem ausprobiert werden müssen, um eine geeignete Methodik zu finden. Hierbei könnten selbstanpassbare KI-Methoden definitiv helfen. Weiterhin ist das andere Problem vorrangig auch bei Deep Learning die Black Box Eigenschaft. Es werden also eventuell artifizielle Eigenschaften von der KI verwendet, um ein Problem zu lösen bzw. sind die Kriterien nicht bekannt nach welchen die KI ihre Entscheidung trifft. Für ethische Konflikte aber auch Verantwortlichkeiten ist dies ein Problem, welches mittels XAI verbessert werden könnte in Zukunft.
Wir bedanken uns für das Interview und sind gespannt auf die weitere Entwicklung rund um Ai For Life in den Schwerpunkten Biomedizin und Mikrobiologie. Allen Interessierten raten wir, auch weiterhin regelmäßig auf unserer Website vorbeizuschauen. Hier erfahren Sie alle Neuigkeiten als Erstes.